Vox-Pops in den Nachrichten

Eine Sprachanalyse der Vox-Pops in der Berichterstattung über den Emdner Kindsmord
 
1. Einleitung  
24. März 2012 wird ein elfjähriges Mädchen in einem Emder Parkhaus sexuell misshandelt und ermordet. Der Mord an Lena berührt nicht nur die Bewohner der Stadt, er bestimmt darüber hinaus bundesweit die Schlagzeilen. Die Rundfunkanstalten bedienen sich für ihre Aufarbeitung und die generelle Berichterstattung des Falls Meinungsumfragen, sogenannter Vox-Pops, um in ihren Beiträgen Volksnähe, Emotionen und die Meinungen der Öffentlichkeit unterzubringen.

Gegenstand dieses Forschungsberichts ist die inhaltliche Analyse der in den Vox-Pops verbreiteten Aussagen aus der Emder Bevölkerung. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, in welche Kategorien sich die unterschiedlichen O-Töne unterteilen lassen und ob ein inhaltlicher Schwerpunkt in den abgebildeten Aussagen festzustellen ist. 


2. Definition Vox-Pops
Der Begriff Vox-Pop bezeichnet eine Meinungsumfrage innerhalb eines journalistischen Beitrags. Der Ausdruck selbst ist die Kurzform des lateinischen Vox populi, was so viel wie die ‚Stimme des Volkes’ bedeutet. Die meist im Fernsehen oder Hörfunk angewandte Beitragsform besteht aus einer Sammlung von kurzen Meinungsäußerungen, die immer ein bestimmtes Thema betreffen. Befragt werden zufällig ausgewählte Personen, beispielsweise Passanten oder Besucher einer Veranstaltung (vgl. Hüllen, Die Vox Pop, S.1ff).

Ein Vox-Pop Format ist im Durchschnitt zwischen einer und eineinhalb Minuten lang und dabei immer Teil einer weiter gefassten Sendung, beispielsweise der Berichterstattung über eine Gesetzesreform, zu der die Bevölkerung befragt wird. In der Regel wird hierbei nur eine zentrale Frage gestellt. Aus journalistischer Sicht sind Vox-Pops ein effektives Mittel um einen Meinungsspiegel über ein Ereignis oder eine gesonderte Fragestellung abzubilden (vgl. Hüllen, Die Vox Pop, S.2ff).

Dabei ist jedoch zu beachten, dass die in Vox-Pops zusammengefügten Aussagen nicht repräsentativ für die Meinung der abgebildeten Öffentlichkeit gelten können, sondern lediglich die von den journalistischen Akteuren ausgewählten Meinungsgruppen wiedergeben (vgl. Hüllen, Die Vox Pop, S.8).


3. These
Der Sexualmord an dem 11-jährigen Mädchen Lena versetzte die Bevölkerung Emdens in Schrecken. Die daraus resultierenden Emotionen wandelten sich in offene Aggression, als die Identität des tatverdächtigen Berufsschülers David B. an die Öffentlichkeit durchsickerte. Dieser Umstand resultierte aus einer vor den Augen etlicher Zeugen durchgeführten und im Nachhinein kontrovers diskutierten Festnahme des 17-Jährigen durch die Polizeibeamten. (vgl. Protokoll Senatsdebatte S.4ff)

In der Folge rotteten sich Dutzende Personen vor dem Polizeiquartier zusammen und forderten die Herausgabe des Verdächtigen. Im Internet sowie vor dem Quartier wurde überdies mehrfach zur Lynchjustiz aufgerufen. Nach drei Tagen in Untersuchungshaft erweist sich David B. als unschuldig. Die Suche nach dem tatsächlichen Mörder beginnt von Neuem. Tags darauf wird ein 18-jähriger Mann gefasst, er gesteht die Tat.

Diese Ereignisse lassen die Trauer um den Tod Lenas und deren Manifestation in den Medien über Vox-Pops in den Hintergrund treten. David B. tritt an die Stelle Lenas und übernimmt deren Opferrolle, sein Schicksal und die Auseinandersetzung mit dem Mörder dominieren ab diesem Zeitpunkt die Berichterstattung.


4. Quantitative Auswertung
Über den Mord an der 11-jährigen Lena aus Emden wurden 29 Transkripte erstellt. In diesen wiederum finden sich 53 O-Töne von nicht direkt betroffenen Personen, die zu der Tat und den damit verbundenen Geschehnissen Stellung nehmen. Davon sind 27 Aussagen von befragten Passanten, 17 von Anwohnern des zu unrecht verdächtigten David B. und Nachbarn des tatsächlichen Mörders sowie der Familie des ermordeten Kindes. Sechs Beiträge stammen von Bekannten und dem Rechtsbeistand des Tatverdächtigen und von David B. selbst. Die verbleibenden vier O-Töne entfallen auf den Emder Pastor Manfred Meyer und die beiden Initiatorinnen der Solidaritätsbekundung für den unschuldigen David B.

Prozentuale Aufteilung der O-Töne
 



5. Kontextanalyse
5.1. Anteilnahme an Lenas Schicksal und ihrer Familie. Erste und beinahe einhellig dem Opfer und seiner Familie geltende Beileidsbekundungen prägen die Aussagen der befragten Öffentlichkeit am Tag nach Bekanntwerden des Mordes. Zwar hat die Polizei zu diesem Zeitpunkt schon Videoaufnahmen des vermeintlichen Täters veröffentlicht, dennoch haben diese Meldungen die Kommentare der Befragten noch nicht vollständig vom Opfer auf den Mörder gelenkt:

•    „Die Eltern gehen durch die Hölle. Das kann ich nur sagen. Das kann nicht anders sein. Ein Kind zu verlieren, auf grausame Art und Weise, das kann ich mir einfach nur ... das ist die Hölle.“

•    „Was Schreckliches, grausam. Ein Kind, elf Jahre. Wenn man dann noch Bekannte und Verwandte von denen kennt, ist das ja noch schlimmer.“ 


5.2. Negative Aussagen über die Polizeiarbeit. Eine nächste Welle von Vox-Pops lässt sich feststellen, nachdem sich die erste Verhaftung vom 27. März 2012 drei Tage später als Fehler erweist. Am 30. März 2012 nimmt die Polizei den tatsächlichen Mörder fest. In den folgenden Aussagen der Emder spiegeln sich nun gewisse Vorbehalte. Die Skepsis über die Richtigkeit der Festsetzung überwiegt die Erleichterung über den erneuten Zugriff. Dies lässt sich an folgenden O-Tönen ablesen:

•    „Ja ich hoffe das sie jetzt richtig liegen, diesmal. Es kann ja nicht wahr sein, dass jemand in so kurzer Zeit das Leben zerstört bekommt.“

•    „Dann hoffe ich, dass die Polizei diesmal den Richtigen gefunden hat. Und dass das dann endlich einmal ein Ende hat.“

•    „Hoffentlich war er es auch. Nicht wie beim letzten Mal…“


5.3. Anteilnahme an David B. Festlegen möchte sich nach den Ermittlungspannen und der verbalen Hetzjagd im Internet nun niemand mehr. Darüber hinaus lässt sich eine Aufteilung der Mitleidsbekundungen zwischen dem eigentlichen Opfer Lena, und nun auch dem fälschlicherweise beschuldigten David B. feststellen:

•    „Das Leben ist kaputt. Der Ruf ist wirklich zerstört. Man steht jetzt da - man weiß, man hat nichts gemacht und trotz allem bleibt eben etwas auf einem kleben.“

•    „Also der junge Mann tut mir sehr Leid. Es ist schade, dass das so für ihn gelaufen ist und ich wünsche sehr, dass er bald wieder in die Gesellschaft eingegliedert wird.“

•    „Ich glaube, der muss sich ganz schlimm gefühlt haben. Und jetzt vor allem, wo er freigekommen ist, möchte ich nicht wissen, was er – sein ganzes Leben hat sich komplett umgekrempelt.“

Dennoch klingt bei einigen Kommentaren aus der Bevölkerung noch die Aggression durch, welche auch den Zündstoff für die Zusammenrottung vor dem Polizeikommissariat geliefert haben könnte. Dies lässt sich aus den folgenden Aussagen ableiten: 

•    „Wenn sie jetzt den richtigen durch die DNA haben, dann soll er auch die Strafe kriegen. Und zwar nicht nach Jugendstrafrecht sondern nach Erwachsenen Strafrecht.“

•    „Und ich kann nur hoffen, dass der Täter das mitbekommt und ja, sich dadurch so ein bisschen in die Enge gedrängt fühlt.“


5.4. Bezugnahme auf den Aufruf zur Selbstjustiz. Die Ereignisse um die unglückliche Festnahme des 17-jährigen Berufsschülers überlagerten für mindestens einen Tag die Aussagen um das Opfer.

•    „Wir möchten uns solidarisch  zeigen mit einem vorverurteilten Jugendlichen, möchten ihm die Chance geben, in Emden wieder Fuß zu fassen und möchten ihm zeigen, es schmeißen nicht alle mit Steinen sondern es gibt auch ne Menge Leute, die hinter Dir stehen und hier sind wir. Punkt.“

•    „Und das andere war ja auch die ganze Geschichte mit der Facebook Klamotte da und so. Da wurde auch ganz schön viel Wind gemacht.“


5.5. Aussagen über den tatsächlichen Mörder. Die Vox-Pops Aussagen über den Mörder und die Suche nach ihm bleiben über den gesamten Ermittlungszeitraum die am stärksten behandelten Inhalte. Ihre Zahl liegt annähernd fünfmal so hoch wie die der Kommentare und Beileidsbekundungen über das Opfer Lena: 

•    „Sehr angespannt, ja, alle warten drauf, dass der Täter gefasst ist, man kann nur hoffen, dass das schnell passiert.“

•    „Dann finde ich dass er dann dafür verurteilt werden soll und genau so leiden soll. Ich finde das schlimm und ich finde das echt grausam. Ich find das grausig, dass man sich  als erwachsenermann an Kindern vergreift.“

•    „Nein, das hätte man aber nie gedacht. Auf den hätten wir nie getippt. Ach sagen Sie, wäre bloß gut das sie denn kriegen, ja.“

•    „Tatsächlich ist es bekannt, dass Sexualstraftäter entweder aus dem näheren, familiären Umfeld stammen, oder recht jung sind, also so im pubertierenden Alter. Dass kann so ein bisschen auch mit den Sexualhormonen zu tun haben, die dann ja auch übermäßig ausgeschüttet werden. Aber was hier auffällig ist, ist, dass die Tat eiskalt geplant zu sein scheint.“

•    „Also ich habe mehr Angst vor den Leuten, die sowas machen, als vor dem Mörder.“


5.6. Angst vor Wiederholungstat. Präsent über den gesamten Zeitraum der Ermittlungen, bis zur definitiven Festnahme des tatsächlichen Mörders, bleibt die geäußerte Angst vor einer Wiederholungstat und die Sorge um eigene Angehörige:

•    „Ich kann nicht als Mutter tagtäglich, jede Sekunde hinter meinem Kind herlaufen. Die Angst wird immer da sein.“

•    „Wenn er jetzt endlich sagen würde, ja er war es. Dann ist man erleichtert, auch als Mutter.“

•    „Ich hab selber ne Tochter, die ist 10 Jahre alt, wenn ich daran denke, die hat hier vor ein paar Tagen noch auf der Wiese gespielt. Das ist Horror.“


5.7. Kommentare von David B. Der zu unrecht festgenommene David B. meldet sich ebenso in zwei Aussagen zu Wort. Auch wenn dies im engeren Sinne keine Vox-Pops Situation darstellt, so sollen diese beiden Kommentare doch hier Erwähnung finden, um auch die Sicht der, durch die Geschehnisse um die Tat, Betroffenen abzubilden:

•    „Man sitzt da drinnen und man kann nichts machen. Man kann nur das, was im Kopf drinne ist aufschreiben, dem Anwalt geben und er soll sich bemühen da die Beweise reinzuholen und - was kommt auf einen zu? Man kann es nicht beschreiben. Es ist Angst, es sind Albträume, es sind schlaflose Nächte, gewesen. Manchmal nichts essen können, manchmal Erbrechen, es war alles auf einmal irgendwo.“

•    „Schrecklich, schrecklich. Ich wusste von Tuten und Blasen wirklich nicht, was los war, warum, weshalb, wieso. Ja, für mich ist da eine Welt zusammen gebrochen. Ich wusste nicht, was passiert. Ich wusste nicht, wie es weitergeht. Ich wusste gar nichts.“


6. Interpretation
Diesen Inhalten folgend, lassen sich sieben unterschiedliche Kategorien feststellen, in die sich die Vox-Pops Kommentare aufteilen. Beginnend mit Beileidsbekundungen zu Lenas Tod und Mitleid für die Hinterbliebenen des Opfers. Diese Aussagen lassen sich vor allem zu Beginn der Berichterstattung am ersten und zweiten Tag der Ermittlungen verfolgen.

Die Verhaftung des tatverdächtigen Berufsschülers erfolgt am 27. März 2012. In den Abendstunden kommt es zu der Belagerung des Polizeiquartiers und den Aufrufen zur Lynchjustiz. Mit diesem Thema beschäftigen sich die Medien die folgenden drei Tage, bis sich die Unschuld des 17-Jährigen herausstellt.

Nach der Freilassung des fälschlich verdächtigten David B. am 30. März 2012 kommt es zu negativen Aussagen gegenüber der Polizeiarbeit. Ab diesem Zeitpunkt beschäftigen sich die Vox-Pops Kommentare beinahe ausschließlich mit dem Schicksal des unschuldigen David B. und der wiederaufgenommenen Suche nach dem Mörder. Das eigentliche Mordopfer Lena wird in den Aussagen der Öffentlichkeit signifikant vernachlässigt.

Die mit Abstand größte Kategorie betrifft über den gesamten Zeitraum der Berichterstattung die Suche nach dem Täter und nach seiner Festsetzung die Beschäftigung mit seiner Person.

Parallel dazu werden in den Vox-Pops immer wieder die Angst um die eigenen Angehörigen und Sorge um eine Wiederholungstat angesprochen.Eine letzte, wenn auch nicht reine Vox-pops Kommentar-Gruppe betrifft die Aussagen des Berufsschülers David B. selbst.


Einige der Vox-Pops Aussagen betreffen zwei oder mehrere Kategorien und wurden dementsprechend doppelt berücksichtigt. So lassen sich nun die sieben Gruppen wie folgt benennen:

1.    Anteilnahme gegenüber Lenas Hinterbliebenen,                  (4 Aussagen)
2.    Negative Aussagen gegenüber  der Polizeiarbeit,                 (5 Aussagen)
3.    Anteilnahme gegenüber dem Tatverdächtigem David B.,  (13 Aussagen)
4.    Bezugnahme auf den Aufruf zur Lynchjustiz,                       (11 Aussagen)
5.     Aussagen über den tatsächlichen Mörder,                            (18 Aussagen)
6.    Angst vor einer Wiederholungstat,                                          (5 Aussagen)
7.    Kommentare von David B. zu seiner Festnahme.                 (2 Aussagen)

Die These, nach der sich die Berichterstattung der Medien von Lena auf den Mörder verlagert und die Beschäftigung mit dem zu unrecht beschuldigten David B. das eigentliche Opfer aus den Nachrichten verdrängt, lässt sich bestätigen. Die Gründe dafür sind jedoch nicht eindeutig herauszustellen. Sicherlich spielt die Ungewissheit um den Verbleib des Täters und die Angst vor einer Wiederholungstat eine nicht unbedeutende Rolle, sodass sich die Öffentlichkeit unter dem Eindruck dieser offenen Fragen mehr mit dem Mörder befasst als mit dem Opfer. Dazu kommen die Ereignisse um David B., der zunächst als Ventil für die Aggressionen innerhalb der Emder Bevölkerung herhalten musste und der so als aktiver Akteur mehr Berücksichtigung erfährt als das Opfer Lena. 

Mengenvergleich der Vox-Pops nach Inhalten

7. Resümee
Nachdem nicht nachvollzogen werden kann, inwiefern die journalistischen Akteure im Vorfeld manipulativ in die Aussagekraft der Vox-Pops Formate eingegriffen haben, lassen sich die Erkenntnisse dieser Untersuchung letztendlich nur auf das von den Medien projizierte Stimmungsbild im Mordfall Lena anwenden. Dennoch illustriert der Verlauf dieser Berichterstattung die allgemeine Tendenz der Öffentlichkeit, sich vermehrt mit dem Täter und nicht dem Opfer einer Tat zu beschäftigen. Wobei mit dem zu unrecht beschuldigten David B. ein in dieser Form außergewöhnlicher Sonderfall für den Wechsel der Beileidsbekundungen vom Mordopfer auf einen im Zuge der Ermittlungen Betroffenen festzustellen ist.


8. Quellenverzeichnis
Hestermann, T., (2014), Sichtungsplan – Forschungsprojekt, MHMK HamburgHüllen, 
N., (2010), Die Vox Pop, DW-Akademie, Fortbildungszentrum Hörfunk

Senat Bremen, (2012), Ermittlungspannen im Mordfall Lena, SitzungsprotokollVon Lucius, R., Weingartner, M., Die Drei Versäumnisse der Polizei. In http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/mordfall-lena-in-emden-die-drei-versaeumnisse-der-polizei-11708312.html (eingesehen am 7.7.2014)

Baumann, N. (2012), Protkoll des Polizeiversagens. In http://www.focus.de/panorama/welt/protokoll-des-polizei-versagens-ueberfall-auf-joggerin-am-tag-nach-der-selbstanzeige_aid_732778.html (eingesehen am 6.7. 2014)