Analyse der Gegendarstellungen

Eine Analyse der Gegendarstellungen im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL
 
Forschungsbereiche:
1. Gegendarstellung im Forschungsstand
2. Theoretische Basis Gegendarstellungen
3. Forschungsanalyse der Gegendarstellungen
4. Übergreifende Analyse der Gegendarstellungen


3. ForschungsteilDas datenwissenschaftliche Element dieser Arbeit bezieht sich auf die Gegendarstellungen, die der Spiegel in den vergangen 47 Jahren abdruckte. In Folge einer generellen Auswertung der erhobenen Inhalte und einem Überblick der auffälligen Charakteristika einiger Werte werden relevante Kriterien herausgearbeitet. Die Inhalte der Gegendarstellungen in den vergangenen 25 Jahren werden im Weiteren ebenfalls in den Kontext einer explanativen Analyse gestellt.

3.1. Datenanalyse
Insgesamt wurden innerhalb der Datenanalyse von Gegendarstellungen im Spiegel alle verfügbaren Einträge des Formats erfasst. Dies betrifft den Zeitraum von 2014 zurück bis ins Jahr 1967. Das digitale Archiv der Spiegel-Gruppe war dabei die primäre Quelle. Dabei wurden einige im Archiv fehlerhaft verschlagwortete oder doppelt aufgeführte Beiträge nach einer Prüfung aus der Wertung entfernt. Aus den erhobenen Daten ergab sich die nachfolgende Zeitachse. 


Wie in der Visualisierung ersichtlich, fällt der Höchstwert an abgedruckten Gegendarstellungen in das Jahr 1993. In den 51 Ausgaben mussten 28 Ansprüche angenommen werden. Darüber hinaus lässt sich eine Häufung von Gegendarstellungen zwischen den Jahren 1984 und 1994 feststellen. In diesem Zeitraum von zehn Jahren musste das Nachrichtenmagazin 190 Ansprüchen stattgeben, in den übrigen 47 Jahren sind es insgesamt 114 Gegendarstellungen, davon 48 zwischen 1967 und 1993 und 66 im Zeitraum von 1995 bis einschließlich 2014. Dies ergibt insgesamt 293 Abdrucke und macht einen durchschnittlichen Jahreswert von sechs Gegendarstellungen aus. Den tiefsten Wert mit jeweils keiner einzigen Gegendarstellung erzielten die Jahre 1982 sowie 1974, 1973, 1972, 1971 und 1967. Demgegenüber stehen acht Richtigstellungen, davon drei seit 1990 sowie drei Widerrufe.

Wie in der nachfolgenden Tabelle ersichtlich, entwickelt sich die Anzahl der Gegendarstellungen seit 1995 rückläufig im einstelligen Bereich. Die mit Abstand niedrigste Rate weisen die siebziger Jahre des vorangegangen Jahrhunderts auf.


Unter Einbezug prozentualer Maße lässt sich feststellen, dass in die Jahre zwischen 1967 und 1983 16 Prozent der Gegendarstellungen fallen, 62 Prozent sind es von 1984 bis 1994, die verbleibenden 22 Prozent verteilen sich auf den Zeitraum von 1995 bis ins Jahr 2014. In Anbetracht der eingeführten Informationstechnologie seit 1990 wurde in den Jahrzehnten davor, einschließlich 1967, die Anzahl von 123 abgedruckt. Ab 1990 bis 2014 waren es 161. Inklusive einer Dauer von zwei Jahren, in denen die neuen Redaktionssysteme in die Recherchearbeiten vollständig eingegangen waren, sinkt dieser Wert noch einmal um 37 Einheiten auf 86 Gegendarstellungen.

3.2. Explanative Inhaltsanalyse
Für die inhaltliche Betrachtung wurde der Zeitraum von 1990 bis einschließlich 2014 gewählt. Dies geschah mit der Absicht, die Ergebnisse mit der Digitalisierung innerhalb des Spiegels abzugleichen, um so auf eventuelle Zusammenhänge schließen zu können.

Im Folgenden wurden die Anspruchsteller nach sozialdemografischen Merkmalen segmentiert. Dabei ist zu beachten, dass es zu Überschneidungen der herausgearbeiteten Gruppierungen kommen kann. Darauf werden die Inhalte der Gegendarstellungen bewertet. Die generelle Mengenauswertung zeigt, ohne zunächst auf gewisse Einflussfaktoren zu schließen, eine generelle Verminderung der jährlich angenommenen Gegendarstellungsansprüche seit 1990. Im Vergleich der 24 einbezogenen Jahre hat sich der durchschnittliche Jahreswert im Gegensatz zu der anfänglichen Phase um 69 Prozent bis zum Jahresende 2014 verringert. Dabei zeigt die folgende Grafik eine Hochphase in den ersten Jahren zwischen 1990 und 1994 mit durchschnittlich 23 Gegendarstellungen – insgesamt sind es 95. Der Durchschnittswert der folgenden Jahre liegt dagegen bei 3 abgedruckten Ansprüchen.


3.2.1. Sozialdemografische Analyse
Die Analyse der 161 Gegendarstellungen seit 1990 zeigt folgende sozialdemografischen Merkmale: Insgesamt konnten 169 Personen einen Anspruch geltend machen. Davon waren 23 Personen weiblich, das entspricht einem Wert von 13 Prozent. Es lässt sich weiter eine Trennung in Berufsgattung vornehmen, daraus resultieren die sechs nachfolgenden Abschnitte:

3.2.1.1. Akademiker und Wissenschaftler
75 Personen geben einen akademischen Titel an, darunter fünf Frauen. Insgesamt 18 Studierte nennen eine juristische Bezeichnung. Es ist zu beachten, dass unter diesen 75 Anspruchsstellern 48 Prozent, sprich 36 Personen, autonom auftreten, 39 dagegen im Zuge der Darstellung eines Unternehmens bzw. in Vertretung einer juristischen Person.

3.2.1.2. Vertreter von Unternehmen und Institutionen
Die nächstgrößere Gruppe, setzt sich aus 74 Vertretern unterschiedlicher Unternehmen und Institutionen zusammen. Wobei sich die Zahl der Wirtschaftsunternehmen mit 75 Prozent von den nicht profitorientierten Institutionen und Vereinen abhebt. Mehrfach haben dabei Vertreter des Volkswagen-Konzerns eine Gegendarstellung zugesprochen bekommen.

3.2.1.3. Politiker und politische Amtsträger
Den drittgrößten Abschnitt bilden 19 Politiker unterschiedlicher Amtsgrade. Darunter finden sich sieben Mitglieder der SPD, vier der CDU, jeweils zwei Vertreter der Linken und FDP, so wie ein Politiker der Grünen, des „Bundes Freier Bürger“ und ein ehemaliger NPD-Funktionär. Der Grieche Akis Tsochatzopulos nimmt dabei als einziger ausländischer Politiker eine Sonderposition ein.

3.2.1.4. Journalisten und Medienschaffende
Unter den Anspruchsstellern lassen sich des Weiteren 23 Journalisten und sonstige Medienschaffende ausmachen. Darunter sieben Fernsehredakteure inklusive der Moderatoren Thomas Gottschalk und Carmen Nebel, Alexander Niemetz, Barbara Dickmann sowie Hans Mohl. Daneben erwirkten der ehemalige Bild-Chefredakteur Günter Prinz, der ebenfalls inzwischen abberufene Chefredakteur der „Passauer Neuen Presse“ und die Redaktionsleiterin der Illustrierten „Bunte“, Patricia Riekel einen Abdruck ihrer Darstellungen.

3.2.1.5. Sportler und Sportfunktionäre
Unter diesen Vorzeichen finden sich elf Personen. Darunter vier aus dem Bereich Fußball, jeweils zwei Vertreter der Sportarten Boxen, Kanufahren, Radrennfahren sowie der ehemaliger Cheftrainer des „Deutschen Leichtathletik-Verbands“, Bernd Schubert. Die prominentesten Anspruchssteller sind dabei der Radrennfahrer Jan Ullrich und der Präsident des Weltfußballverbands Joseph Blatter.

3.2.1.6. Andere
Unter diesem Abschnitt wurden all diejenigen Personen zusammengefasst, die sich keiner der oben genannten Gruppen zuordnen lassen und zusammen mit vergleichbaren Antragstellern unter dem Mindestgrad von fünf Bezugspartnern geblieben sind. Insgesamt macht diese Gruppe die Anzahl von 30 Personen aus. Von akademischen Titeln wurde hierbei abgesehen, da das daraus bedingte Berufsfeld nicht den Ausschlag für die jeweilige Gegendarstellung gab. Der Politaktivist Klaus Croissant,36Maximilian Strauß, der Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers Josef Strauß, Georg von Preußen, sowie Kardinal Joachim Meisner tauchen insofern auch unter der Rubrik „Akademiker“ auf.


3.2.1.7. Personen des öffentlichen Lebens
Nach der Definition einer „zeitgeschichtlichen Person“ oder „Person des öffentlichen Lebens“ gelten Politiker und Menschen mit einer besonderen gesellschaftlichen Stellung als prominent. Dieser unbestimmte Rechtbegriff wurde primär zur Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Grundgesetz etabliert. Das Attribut prominent zu sein besitzt jedoch keine allzeitliche Gültigkeit und seine Halbwertszeit bleibt Abwägungssache. Insofern kann auch für den betrachteten Zeitraum von 1990 bis 2014 kein durchgängig anwendbares Raster für eine Gruppierung in prominente und weniger prominente Anspruchsteller getroffen werden 36.

3.2.1.8. Mehrfache Anspruchsteller
Die Anzahl der Personen, die mehr als einmal eine Gegendarstellung innerhalb des genannten Zeitraums durchsetzen konnten, liegt bei sechs Anspruchsstellern. Im Einzelnen sind dies: Peter-Michael Diestel, Gerd Postel, José López de Arriortúa und Jose Manuel Gutierrez sowie Willy Bogner, jeweils mit zwei Vermerken. Einsamer Spitzenreiter mit sieben Gegendarstellungen in einem Zeitraum von sechs Jahren ist Gregor Gysi – sein Fall wird unter den herausragenden Gegendarstellungen nachfolgend noch eingehender erörtert.

3.2.1.9. Staatsangehörigkeit
Die Herkunft der betroffenen Personen stellte sich während der Recherche in etlichen Fällen als nicht hinreichend belegbar heraus. Zwar lässt sich für 82 Prozent der Antragstellenden von einer deutschen Staatsbürgerschaft sprechen, um eine Verfälschung der Merkmale auszuschließen, wurde der Aspekte der Herkunft jedoch nicht als einfließendes Kriterium einbezogen.


3.2.2. Inhaltliche Schwerpunkte
Die Gegendarstellungen aus den 24 Jahren seit 1990 wurden in den folgenden Rubriken veröffentlicht: Deutschland, Wirtschaft, Sport, Kultur, Medien, Wissenschaft + Technik, Gesellschaft, Panorama, Trends, Forum, Ausland, Leute, Titel und eine Gruppe von nicht eindeutig kategorisierbaren Themen.Die presserechtliche Bestimmung, nach der eine Gegendarstellung innerhalb derselben Kategorie wie der ihr zugrunde liegende Artikel abgedruckt werden muss, ist für den Standort innerhalb der Ausgabe maßgeblich. Daher und durch einen Vergleich der Textinhalte, kann folgende thematische Gewichtung festgestellt werden:


3.2.2.1. Der Redaktionsschwanz
Dem von einer Gegendarstellung betroffenen Medium steht es frei, seine Sicht der Dinge noch einmal zu bekräftigen, die getätigten Aussagen des Anspruchsstellers so zu kommentieren, oder der Darstellung beizupflichten. Dies geschieht in Form eines sogenannten „Redaktionsschwanzes“, eines formativ von der Gegendarstellung getrennten Textabschnitts unterhalb des Namensvermerks. Insgesamt wurde ein solcher Anhang in 76 Fällen beigefügt.

Dabei kommentiert die Redaktion 36 Mal die Darstellung des Betroffenen mit einem Gegenargument, dies macht 22 Prozent der 161 Gegendarstellungen aus. Ein bestimmtes Muster ist dabei jedoch nicht feststellbar, die Aussagen sind ausschließlich auf das Argument bezogen. Die jeweiligen Redakteure heben außerdem in 25 Fällen hervor, dass sie sich von der getätigten Aussage distanzieren und bei ihrer ursprünglichen Darstellung bleiben.

Insgesamt stimmte die Redaktion den Urhebern der Gegendarstellungen in 13 Fällen zu. Dies bringt sie durchgehend kompakt mit dem Satz „XY hat recht. –Red.“ zum Ausdruck (vgl. Bspw. Kofler, 2006, S. 49).


Die Redaktion des Spiegels fühlte sich in 24 Fällen dazu veranlasst, die Bestimmung des Pressegesetzes anzufügen, nachdem das Nachrichtenmagazin eine den Vorgaben genügende Gegendarstellung abzudrucken hat, ohne Einfluss auf die Richtigkeit der gemachten Aussage. Dabei kamen fünf verschiedene Varianten zum Einsatz:

2004-2014: Der SPIEGEL ist nach Paragraf 11 des Hamburgischen Pressegesetzes verpflichtet, die Gegendarstellung ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt abzudrucken (Der Spiegel, 32/2010, S. 68).

2002-2003: Nach dem Hamburgischen Pressegesetz ist der SPIEGEL verpflichtet, eine Gegendarstellung abzudrucken, gleich ob sie wahr oder unwahr ist (Der Spiegel, 45/2003, S. 94).

1994-2001: Der SPIEGEL ist gemäß § 11 des Hamburgischen Pressegesetzes zum Abdruck der vorstehenden Gegendarstellung ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts verpflichtet (Der Spiegel, 42/1997, S. 20).

1991-2000: Nach Paragraph 11 des Hamburgischen Pressegesetzes ist der SPIEGEL unabhängig vom Wahrheitsgehalt zum Abdruck der Gegendarstellung verpflichtet (Der Spiegel, 9/1993, S. 99).

1990-1990: Nach dem Hamburgischen Pressegesetz ist der SPIEGEL zum Abdruck von Gegendarstellungen verpflichtet, sofern sie formalen (nicht inhaltlichen) Kriterien genügen (Der Spiegel, 17/1990, S. 32).

3.3. Formative Analyse

3.2.1. Generelle Platzierungen und Gestaltungsvorgaben
Die Gegendarstellungen des Spiegels werden überwiegend zwischen den Heftinhalten, das heißt niemals auf einer der Titel- oder Umschlagseiten und nur in einem Fall in den Ankündigungen des Inhaltsverzeichnisses gesetzt. Innerhalb des redaktionellen Heftteiles finden sie sich vornehmlich am Ende größerer Geschichten, oftmals zwischen Werbeanzeigen.

Die Gegendarstellungsblöcke weißen bis auf eine Aufnahme, die Kommentarskizze zu einer Gegendarstellung von Berke M. Köhler am 9. Dezember 1991, keine gestaltungsspezifischen Besonderheiten auf.

 Die Textlängen der Gegendarstellungen folgen ebenso keinem durchgängigem Muster, durchschnittlich besitzen sie jedoch zwischen 800 und 1.600 Zeichen inklusive Leerzeichen.

3.3.2. Beispiel Gegendarstellung im Seitenkontext
Beispiel des Gestaltungsrahmens einer Gegendarstellung im Seitenkontext aus dem Jahr 2004 (vgl. Ites, 2004, S. 98).


3.3.3. Besonderheit Gegendarstellung im Inhaltsverzeichnis
Das einzige Mal, dass eine Gegendarstellung innerhalb des Inhaltsverzeichnisses abgedruckt werden musste, fand im Jahr 2012 statt. (vgl. Berggruen, 2012, S. 9).


3.3.4. Besonderheit Kommentarskizze
Um die Gegendarstellung der „Interatom GmbH“ zu relativieren, fügte die Redaktion einen Vergleich der konfliktgebenden Gebäudeskizze an – ein seltener Vorgang, so nur noch einmal im 1991 vorgekommen 37. (vgl. Berke & Köhler, 1991, S. 136).


3.4. Gegendarstellung konkret
Die in den vorangegangenen analytischen Betrachtungsweisen der Gegendarstellungen im Spiegel werden nachfolgend an drei ausgewählten Beispielen illustriert. Dabei repräsentiert der erste Punkt die typische Darstellung, wie sie überwiegend im betrachteten Zeitraum von 1990 bis 2014 vorzufinden ist. Das zweite Beispiel beschäftigt sich mit dem besonderen Verhältnis des Politikers und Juristen Gregor Gysi, der in seiner Funktion als betroffener Anspruchsteller auffällig und konkurrenzlos oft vertreten ist. Der dritte Part zeigt die durchschnittlich mit am häufigsten auftretende thematische Form einer Gegendarstellung im Kontext eines Wirtschaftsartikels – dem Skandal um den ehemaligen VW-Manager Lopez aus dem Jahr 1993.

3.4.1. Die durchschnittliche Gegendarstellung
Aus der vorangegangenen Analyse resultiert ein Durchschnitt sozialdemografischer Merkmale, die bei der überwiegenden Anzahl an Anspruchstellern festzustellen ist. Dieser Typus vereint auf sich drei verschiedene Charakteristiken:

1. Er ist männlichen Geschlechts.
2. Er besitzt einen akademischen Titel.
3. Er vertritt eine Institution oder ist in der Wirtschaft tätig.

Darüber hinaus hat die Betrachtung der formativen Elemente aller Gegendarstellungen ebenfalls drei durchschnittlich anzutreffende, gestaltungsspezifische Kennzeichen ergeben:

1. Der Text ist zwischen 800 und 1.600 Zeichen lang.
2. Er resultiert aus einem Artikel in der Rubrik Deutschland oder Wirtschaft.
3. Im wurde kein Redaktionsschwanz angehängt.

Aus diesen Attributen resultiert die Wahl einer Gegendarstellung in der Ausgabe Nummer 27 im Jahr 1998. Es handelt sich um die Gegendarstellung von Wolfgang Hawickhorst und Klaus Janberg, die in Vertretung der „GNS Gesellschaft für Nuklear- Service mbH“ zu Wort kommen. Sie beziehen sich auf einen Artikel in der Rubrik „Deutschland“ aus dem Heft Nummer 22 vom 25. Mai 1998. Darin wird ihnen die Herstellung eines fehlerhaften Transporttyps für Atommüll unterstellt. Gegen dieseTatsachenbehauptung gehen sie in der Ausgabe vom 8. Juni 1998 auf der Seite 34 vor 38, 39.

Dieses Beispiel erfüllt alle sechs genannten Durchschnittswerte. Die Gegendarstellung umfasst circa 900 Zeichen, sie wurde unter der Rubrik Deutschland platziert und besitzt keinerlei erweiterten Redaktionsschwanz. Ihre Autoren geben einen akademischen Grad an und argumentieren stellvertretend für ein Wirtschaftsunternehmen.


3.4.2. Gregor Gysi – Wiederholungsdarsteller
Der studierte Jurist Gregor Gysi ist Rechtsanwalt. In der Öffentlichkeit tritt er vornehmlich als Politiker der Partei „die Linke“ (Selbstreferenziell: DIE LINKE) auf. Seit 2005 ist er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion des Bundestags. Bekanntheit erlangte Gregor Gysi zunächst als Mitautor eines Reisegesetzes der DDR im November 1989 40.

Im Zuge der Aufarbeitung von DDR-Akten wurde der Vorwurf laut, Gregor Gysi wäre als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit tätig gewesen. Gegen die Berichterstattung dieses Umstandes, im Speziellen gegen die Darstellung er wäre der Informant mit den Decknamen „Notar" oder „Gregor“, im Spiegel wehrte sich der Jurist mehrfach und über Jahre hinweg. Daraus resultiert Gregor Gysi als diejenige Person mit den meisten Gegendarstellungen in dem Nachrichtenmagazin.


Die Chronologie dieses Verhältnisses zwischen Medium und Betroffenem beginnt im Jahr 1991 mit der Darstellung des Spiegels, Gysi hätte aktiv versucht, den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl dahin gehend zu beeinflussen, die Öffnung der „PDS- Partei-Archive“ nicht zu genehmigen. Dieser Tatsachenbeschreibung widerspricht Gysi im November 1991, eine Woche nach Veröffentlichung des Artikels 41.

Die darauf folgende Gegendarstellung resultiert aus dem Jahr 1992. In der Spiegel Ausgabe, Nummer 18, aus dem Jahr 1992 beschäftigt sich das Ressort Deutschland mit Gregors Gysis vermeintlicher Tätigkeit als Informant der Staatssicherheit. Diesem Vorwurf widerspricht Gysi ausführlich über mehrere Absätze. Er schließt mit den Worten: „Hierzu stelle ich fest: Ich war nicht ,informeller Mitarbeiter’ der Stasi (1992, S. 93).“ Die Redaktion vermerkt hierbei den Hinweis, sie sei nach Paragraph 11 des Hamburgischen Pressegesetzes dazu verpflichtet, die Gegendarstellung ohne Rücksicht auf deren Wahrheitsgehalt abzudrucken (vgl. der Spiegel, 1992, S. 93).

Im Jahr 1994 taucht die dritte Gegendarstellung Gysis auf. Das Heft mit der Nummer 46 behandelt erneut die Rolle des Juristen innerhalb der Politverstrickungen der DDR. Gysi widerspricht dabei der Behauptung, er hätte Zuwendungen eines „MfS- Oberleutnants“ erhalten (vgl. Gysi, 1994, S. 28).

Der nächste Auftritt des Politikers ist in der Ausgabe Nummer 49 aus dem Jahr 1996 belegt. Erneut widerspricht Gysi einer Darstellung, nach der er in Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit der DDR auftaucht 42.

Die intensivste Auseinandersetzung über das Format der Gegendarstellung Gysis mit dem Spiegel beginnt im Januar 1997. Die in dem Artikel „Im Regen“ aufgestellten Tatsachenbehauptungen, nach welchen impliziert wird, Gysi wäre ein Informant mit dem Decknamen „IM/Notar“ gewesen, stellt er als unwahr heraus (vgl. Gysi, 1997, S. 77). Darauf widerspricht die Redaktion in einem, die Länge der Gegendarstellung noch überschreitenden Redaktionsschwanz. Darin zitiert die Redaktion des Spiegels mehrfach aus den Stellungnahmen der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (vgl. ebda.,S. 77).

Auch darauf erwirkt Gysi einen Anspruch auf die eigene Darstellung. Im Heft Nummer 11 bekräftigt der Politiker erneut, es gäbe keine Akten, die belegen würden, er wäre als Informant mit der Bezeichnung Notar oder Gregor tätig gewesen (Gysi, 1997, S.42). In seiner Gegendarstellung wird deutlich, an welcher Aktennotiz sich seine und die Interpretation des Spiegels unterscheiden. Es geht im Kern um das Urteil des Untersuchungsgremiums aus dem Jahr 1993. Dieses kommt zu dem Urteil: „Die Stasi- Tätigkeit Gysis sei zwar ‚erwiesen’, wegen unvollständiger Akten aber ‚nicht zweifelsfrei’ (vgl. Gysi, 1997, S. 42, zit. nach Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, 1993, Urteil.).“

Die bisher letzte Gegendarstellung Gysis wurde in der 14. Ausgabe des Jahres 1997 abgedruckt – es ist nunmehr die Siebte. Hierin widerspricht Gysi der Behauptung seine Gespräche in seiner Funktion als Anwalt des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro hätten zu Verschärfungen von dessen Haftbedingungen geführt (vgl. Gysi, 1997, S. 68). Auffallend ist die Tatsache, dass Gysi zwar bestreitet, mit der Stasi-Zentrale telefoniert zu haben, jedoch nicht mehr explizit verneint der Informant unter dem Decknamen Gregor zu sein (vgl. ebda., S. 68) 43.


An diesem Verlauf aufeinander folgender Gegendarstellungen lässt sich ablesen, inwiefern der Anspruch als presserechtliches Instrument wirkt. Als Leser beider Interpretationen, die der Spiegel-Redaktion und die des Betroffenen Gysis, ist man frei in der Wahl, eine der Darstellungen gewichtiger zu nehmen. Da die Aussagen sich ausschließlich auf Tatsachenbehauptungen beziehen und selbst ebenfalls nur solche beinhalten, existiert kein übermäßiger Spielraum, um ein emotionales Übergewicht der Inhalte durch sprachliche Mittel zu erwirken.

3.4.3. Der Skrupellose
Unter diesem Titel veröffentlichte das Wirtschaftsressort des Spiegels 1993 einen Artikel über die angebliche Industrie-Spionage des vom Autohersteller „General Motors“ zu „Volkswagen“ gewechselten Managers Jose Ignacio Lopez de Arriortua. Dieser für seine rigiden Maßnahmen zur Kostenoptimierung bekannte Lopez soll, so der Vorwurf, Betriebsgeheimnisse aus der Zeit bei General Motors für seine Tätigkeit im Volkswagen Konzern missbraucht haben. Gegen diese Behauptung wehrt sich Lopez gemeinsam mit zwei seiner Mitarbeiter und ebenfalls zwei Vertretern des Volkswagen-Konzerns in mehreren Gegendarstellung (vgl. Lopez, 1993, S. 94ff).


Die Länge der Gegendarstellungen von insgesamt über zwei Seiten ist beispiellos für den Zeitraum 1990 bis 2014. Die Ausführlichkeit, in der die Betroffenen ihre Darstellung des Sachverhaltes darlegen, kann als Beleg für die ausgleichende Wirkung des Gegendarstellungsanspruchs gelten. Nach der beschriebenen Doktrin der Waffengleichgleichheit räumt der Spiegel den in der Titelgeschichte vorkommenden Personen einen umfangreichen Raum ein. Im Folgenden werden die insgesamt sieben Gegendarstellungen abgebildet: